Als ich neulich mal wieder ein wenig in Tolstois
Anna Karenina gelesen habe, ist mir wieder einmal aufgefallen, wie meisterhaft Tolstoi es versteht, mit Worten Bilder zu zaubern. Und diese Bilder sind besonders schön, wenn es sich dabei um die Kleidung einer seiner zahlreichen Damen handelt. Deshalb habe ich mir gedacht, ich könnte mal eine neue Rubrik eröffnen, die da wäre:
Literature into Fashion.Aufgrund des Gedankenanstoßes eröffnen wir heute natürlich mit Tolstoi. Die Szene spielt sich ganz am Anfang des Buches ab, als Anna die noch ziemlich kindliche Kitty auf einen Ball begleitet:
"Obgleich die Toilette, die Frisur und alle die anderen Zurüstungen zum Balle Kitty viel Mühe und viel Überlegungen gekostet hatten, trat sie doch jetzt in ihrem kunstvollen Tüllkleide über einem rosa Unterkleide auf dem Balle so frei und ungezwungen auf, als ob all diese Rosetten, Spitzen und sonstigen Bestandteile der Toilette ihre und ihrer Hausgenossen eifrige Tätigkeit auch nicht für einen Augenblick in Anspruch genommen hätten, als ob sie in diesem Tüll, in diesen Spitzen, mit dieser hohen, von einer Rose nebst zwei Blättchen gekrönten Frisur geboren wäre. [...]
Kitty hatte heute einen ihrer glücklichen Tage. Nirgends saß das Kleid zu eng; nirgends war die Spitzenborte hinuntergerutscht; keine Rosette war zerdrückt oder abgerissen; die rosa Ballschuhe mit den hohen, geschweiften Absätzen drückten nicht, sondern waren eine Lust für die Füßchen. Die dichten, hellblonden Bandeaus saßen auf dem kleinen Köpfchen fest wie das eigene Haar. Die drei Knöpfe an jedem der langen Handschuhe, die eng anliegend die Hände umschlossen, ohne deren Form zu verändern, hatten sich alle zuknöpfen lassen; keiner war abgerissen. Das schwarze Samtband, an dem ein Medaillon hing, umgab ihren Hals besonders anmutig. Dieses Samtband war geradezu entzückend, und als Kitty zu Hause ihren Hals im Spiegel gesehen hatte, hatte sie ein Gefühl gehabt, wie wenn dieses Samtband reden könnte. Und wenn bei allen übrigen Bestandteilen ihrer Toilette vielleicht noch ein Zweifel an deren höchster Vollendung möglich war, das Samtband war einfach entzückend."
Kleid: Betsey Johnson, Schuhe: Badgley Mischka, Handschuhe: Roeckl, Samtband: Do-it-yourself
Text: Tolstoi, Leo (2009): S. 129. Frankfurt: Fischer